Frauen im Literaturbetrieb: Eine Annäherung an eine Standortbestimmung

Von Nicole Pfister Fetz

  1. Präambel

«In dem man mich herabsetzt, in dem man etwa, wie ein Journalist es tat, behauptet, Paul habe meinen ersten Roman geschrieben, bekräftigen die Machthaber die Minderwertigkeit ‹der Frau›, und das System bleibt intakt. Paul ist die symbolische Keule geworden, die mir für meine Dreistigkeit über den Kopf gezogen wird. Wie kann ich es wagen, mich meinem Mann ebenbürtig zu fühlen? Wie kann ich es wagen, mich genauso ernst zu nehmen wie ihn? Zwischen uns ist das überhaupt kein Thema.»

Siri Hustvedt, Autorin – Übersetzung aus dem Englischen: Grete Osterwald
In: Wenn Gefühle auf Worte treffen. Ein Gespräch mit Elisabeth Bronfen, Zürich: Kampa Verlag 2019, S. 85.

Geneigtes Publikum!

Erlauben Sie eine Vorwarnung: Mein Referat hier wurde nicht von mir, sondern in Wahrheit von meinem Mann geschrieben – zumindest wurde ich dies einmal nach einer Rede gefragt, mit dem Nachsatz, die Rede sei nämlich sehr gut gewesen. Weshalb muss ich mich im Jahr 2022 immer noch für meine eigene Leistung rechtfertigen? Aber es geht ohnehin nicht um die Frage der Qualität, sondern darum, uns die Fähigkeit abzusprechen, überhaupt schreiben oder präsentieren zu können. Und damit bin ich mitten im Thema dieses Symposiums.

Als ich vor 15 Jahren die Geschäftsführung des A*dS übernommen hatte, war ich – und mit mir einige Kolleginnen – überzeugt, die Gleichberechtigung in der Literatur sei so fortgeschritten, dass es hier keine besonderen Bemühungen mehr braucht. Wie wir heute wissen, lagen wir schlicht falsch. Es ist besser geworden, viel besser, keine Frage, aber dennoch entfernt vom Ziel.

Auf was begründen wir diese Annahme? Welche Fragen stellen sich uns heute? Welche Lösungen bieten sich an?

Zum Auftakt dieser Tagung will ich mich einer Standortbestimmung annähern. Das Themenfeld ist riesig, so dass Sie vor allem Lücken bemerken werden. Ich konzentriere mich auf den klassischen Literaturbetrieb, Theater, Film, Spoken Poetry usw. muss ich den nachfolgenden Diskussionen überlassen. Auch wird der Fokus stärker auf Autor*innen liegen, was in meiner Tätigkeit begründet liegt. Im Vordergrund stehen Zahlen und Erkenntnisse aus verschiedenen Quellen und Umfragen, die aber immer nur eine Annäherung sein können.

Eine letzte Vorbemerkung: Die Sprache steht im Zentrum, immer, wenn wir von Literatur reden, aber sie steht auch im Zentrum, weil wir von gesellschaftlichen Strukturen sprechen. Die bewusste Verwendung inklusiver bzw. generischer Sprache hat Einfluss auf das gesellschaftliche Verhalten. So zumindest gemäss Pascal Gygax, Psycholinguist an der Universität Freiburg, in der 2021 veröffentlichten Studie «Le cerveau pense-t-il au masculin?»[i]. Dazu sagt er in einem Interview: «Die Geschichte lehrt uns, dass die patriarchalische Gesellschaft einen Einfluss auf die Maskulinisierung der Sprache hatte, und die Daten sagen, dass die Vermännlichung der Sprache einen Einfluss darauf hat, wie wir die Welt wahrnehmen.»[ii] Also: Wenn ich Autorin sage, dann meine ich die literarisch tätige Frau – umgekehrt ist ein Autor der Mann. Mit dem Gendersternchen im Geschriebenen würde ich alle weiteren Geschlechter miteinbeziehen, im Mündlichen wird der Stern zur Pause «Autor-in». Und verzeihen Sie schon jetzt, dass ich wohl dennoch nicht ohne sprachlichen Fauxpas durchkommen werde, denn noch fehlt der deutschen Sprache eine zufriedenstellende diversitätsgerechte Formulierung.

2. Frauen-Literatur – das Dilemma mit der Bindestrich-Literatur

«Marginalisierung erfolgt immer dann, wenn zwischen ‹Literatur› und ‹-literatur› unterschieden wird und ‹-literatur› damit in einer Sonderschublade verschwindet.»

Katharina Herrmann, Literaturbloggerin
Aus: Auch ein Land der Dichterinnen und Denkerinnen. Eine etwas längere Anmerkung, www.54books.de vom 24.9.2017, S. 38 [heruntergeladen am 1.4.2019]

Warum eigentlich gibt es den Begriff «Frauen-Literatur», warum «Migrations-Literatur», warum brauchen wir solche «Sonderschubladen», wie sie die Literaturbloggerin Katharina Herrmann bezeichnete? Warum ist das Gegenstück zu «Frauen-Literatur» bis heute nicht «Männer-Literatur», sondern meistens einfach «Literatur»? Natürlich gibt es inzwischen «Literatur», die von Frauen geschrieben wurde. Oder Bindestrich-Literaturen von Männern. Aber: «Literatur» suggeriert bis heute qualitativ hochstehende, gesamtgesellschaftlich relevante Literatur – im Unterschied eben zur sogenannten «Bindestrich-Literatur», die lediglich in ihrer Art qualitätvoll sein kann, jedoch ohne gesamtgesellschaftliche Relevanz bleibt und immer nur Sonderthemen für bestimmte Zielgruppen behandelt.

Dazu meinte die Journalistin Doris Knecht diesen April in einem Artikel in der Wochenzeitung «Die Zeit»: «Männerliteratur […] ist eben einfach Literatur. Es war State of the Art, dass alle, Männer und Frauen, sich so gut wie ausschließlich für das Leben und den Körper des Mannes als solchem interessieren sollen: für seine sexuellen Probleme, seine Schmerzen, seine Liebesabenteuer, seinen Eroberungsdrang, seine Kränkungen, seine dysfunktionalen Familienbeziehungen und dafür, dass an allem letztlich wahrscheinlich seine Mutter schuld ist. Das war so normal, dass es uns nicht einmal merkwürdig vorkam. So wurden wir als Leserinnen sozialisiert, so lernten wir Lektüre in der Schule. So ging Literatur.»[iii]
Büchertische werden inzwischen weiblicher, diverser, bestätigt auch Doris Knecht. Doch der Weg aus der Bindestrich-Falle (in anderen Sprachen ohne Bindestrich, aber doch mit Zusatz kategorisierend) bleibt lang, zu sehr ist diese Form der Kategorisierung verankert.

Denn erst wenn wir nicht mehr nicht mehr aus-, sondern mehr einsortieren, wie es Katharina Herrmann in ihrem vielzitierten Blogbeitrag «Auch ein Land der Dichterinnen und Denkerinnen» formuliert[iv], gelingt uns vielleicht der Weg aus diesem Dilemma und wir fangen an, «Literatur» als einen autonomen Kunstbegriff zu verstehen, der Werke von Urheber­*innen aller Geschlechter und Minderheiten mit einbezieht. Demzufolge könnten sich die meisten Fragen zu «Frauen-Literatur» genauso gut auf andere Bindestrich-Literatur beziehen.

3.   Frauen im Literaturbetrieb: wie viele sind wir?

Wie viele sind wir. Mangels detaillierter Studien lassen sich hierzu nur Anhaltspunkte geben.

  • Autorinnen

Die Mitgliederzahlen des A*dS bieten einen möglichen Anhaltspunkt. Per Ende April 2022 zählte der Berufsverband 1012 Mitglieder, davon 487 Frauen, also 48 Prozent. Knapp die Hälfte aller Schreibenden sind also vermutlich Autorinnen. Mit Blick ins Ausland: in Italien zählte 2017 das Osservatorio dell’Associazione Italiana Editori (AIE) lediglich 38 % Autorinnen.[v]

  • Verlegerinnen

In der französischen Schweiz werden gemäss einer Umfrage von LIVRESUISSE, des französischschweizerischen Berufsverbands für Verlagswesen, Buchhandel und Vertrieb, 40 Prozent aller Verlage von Frauen geleitet[vi]. Für die Deutschschweiz gibt es keine Zahlen. Hadi Barkat, Verleger von Helvetiq, meint dazu: «La Suisse alémanique compte plus d’hommes à la direction, clairement. […] La Suisse romande est un exemple de diversité dont on peut se réjouir.» Wirklich? Der Anteil geschäftsführender Frauen in Verlagen der Suisse romande relativiert sich, wenn man bedenkt, dass in Verlagen die übrige Belegschaft fast vollständig aus Frauen besteht. Dennoch sehen Verlegerinnen kaum Genderprobleme, zumindest im Vergleich mit dem angrenzenden Ausland. Léa Hutton, Verlegerin von éditions Lemart: «En Suisse, la question du genre ne s’est pas posée et nous avons une vraie complicité avec nos collègues masculins. En France, par contre, j’ai senti beaucoup de réticences.» In der italienischsprachigen Schweiz ist mir keine weibliche Verlagsleitung bekannt und in Italien nehmen lediglich 23% Frauen strategische Positionen in Verlagshäusern[vii] ein.

  • Buchhändlerinnen und Bibliothekarinnen

Der Schweizerische Buchhandels- und Verlags-Verband SBVV weist in seinem Marktreport von 2021 einen Anteil von 80 bis 90 Prozent Frauen in Buchhandlungen auf, wobei der Anteil führender Personen nicht genannt wird. Ohne Kenntnis von Zahlen zu haben, besteht die Vermutung, dass auch in Bibliotheken die Anteile in ähnlichen Bereichen liegen.

  • Literaturkritikerinnen

Wie viele Literaturkritikerinnen in der Schweiz arbeiten, wurde meines Wissens bisher nicht erfasst. In einer österreichischen Untersuchung zu «Geschlechterverhältnissen in der Literaturkritik» von Veronika Schuchter aus dem Jahr 2016[viii] stammten von 3240 Belletristik-Rezensionen 66 Prozent von Kritikern, also auf zwei Kritiker kommt eine Kritikerin.

Es mangelt im Literaturbetrieb somit durchaus nicht an Frauen. Dennoch stellt sich die Frage, sind wir genug, um den Literaturbetrieb zu bewegen? Es bewegt sich, Änderungen, und ja, durchaus viele Verbesserungen sind sichtbar. Bewegt es sich genug? Wie können wir langfristige Änderungen bewirken?

4.    Einkommenssituation

Die französische Schriftstellerin mit italienischen Wurzeln, Christine de Pizan, die zwischen 1365 und 1430 lebte und unter anderem «Le livre de la Cité des Dames» veröffentlichte, gilt gemeinhin als eine der ersten Frauen, die vom Schreiben leben und sogar ihre Familie ernähren konnte. Virigina Woolf schrieb in ihrem Essay «A room of one’s own» 1929 – Zitat in einer Übersetzung von Heidi Zerning –, «[…] eine Frau muss Geld und ein eigenes Zimmer haben, um schreiben zu können […]»[ix]. Wir wissen, dass Woolf nicht nur vom literarischen Schreiben, sondern erst von anderen Schreibtätigkeiten, später von einer Erbschaft lebte.

Heute befinden wir uns in einer anderen Situation und die Türen stehen für die meisten Menschen zumindest in unseren Breitengraden ähnlich weit offen, was auch eine Einkommensähnlichkeit vermuten liesse.

Die Umfrage der Dachorganisation Suisseculture Sociale von 2021 bestätigte das Resultat einer ähnlichen Umfrage fünf Jahre früher: Mehr als die Hälfte aller Kulturschaffender in der Schweiz verfügen über ein jährliches Gesamteinkommen von lediglich CHF 40 000 oder weniger – wohlgemerkt: inklusive dem sog. Broterwerb und bei einer durchschnittlichen Arbeitszeit von 45 Stunden pro Woche.

Eine literaturspezifische Auswertung wurde dieses Mal nicht gemacht, aber 2016 schon. Der zufolge gaben 70 % Männer an, literarisch im Haupterwerb tätig zu sein, aber nur 44 % Frauen. Autorinnen verdienen zudem deutlich weniger als ihre männlichen Kollegen: Nur 8 % Autorinnen verdienen aus literarischer Tätigkeit über Fr. 21’150 pro Jahr. Bei den Männern sind es immerhin 30 %.

Ein Indiz von vielen für diesen eklatanten Unterschied gibt die Untersuchung des Queens College in New York, das die Preise von Neuerscheinungen in den USA von 2002 bis 2012 untersuchte. Bücher von Frauen kosteten im Schnitt 45 % weniger als die von Männern.[x]

Weitere Untersuchungen – und zwar in regelmässigen Abständen – wären in jedem Fall angesagt. Sie sollten auch den Gründen für diese Unterschiede nachgehen.

5.     Buchmarkt: was und wie viel wird produziert…

«Angesichts der Manuskriptfülle, aus der Verlage auswählen, […] lügen wir uns natürlich in die Tasche, dass wir da kein 50:50 herstellen könnten.»

Susanne Krones, Lektorin und Programmleiterin bei Penguin Verlag
Aus: Nicole Seifert, Frauenliteratur. Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt, Köln: Verlag Hiepenheuer & Wietsch, 2021, S. 37.

Wir haben die letzten drei Jahre Neuerscheinungen in der Deutschschweiz gezählt.[xi] Konstante 40 Prozent der in der deutschsprachigen Schweiz publizierten Werke stammten von Frauen. Dieser Anteil wird auch von der Twitterzählkampagne #vorschauenzählen in Deutschland bestätigt.[xii]

Wir haben noch etwas genauer hingeschaut: Dass beim Sachbuch auf 3 Autoren zwei Autorinnen (als 60 zu 40%) kommen, war zu erwarten. Wir waren aber überrascht, dasselbe Verhältnis auch für belletristische Bücher vorzufinden. Nicht einmal beim Kinderbuch, das man klassischerweise als eine Frauendomäne betrachtet, waren die Resultate eindeutig. Waren es 2019 noch drei Autorinnen auf zwei Autoren, veränderte sich das Verhältnis ab 2020 zugunsten der Autoren mit einem Anteil von 43% in 2020 und von 51% im Jahr 2021.

Wie sind diese Zahlen zu werten? In welche Richtung geht der Trend? Zurzeit zumindest scheinen wir beim Verhältnis 40% Autorinnen zu 60% Autoren festzusitzen, was auch Vergleiche mit dem Ausland unterstreichen.

6.     Förderung: Werkbeiträge, Preise und Jurys

« So, wie Frauen eher an einem Herzinfarkt sterben, wenn sie von einem Arzt behandelt werden – so geraten sie eher in Vergessenheit, wenn es die Männer sind, die für die Erinnerung zuständig sind. Und unsere heutige Preisträgerin macht klar, dass unser Kultur­verständnis noch viel zu oft genau das ist: Männer, die sich an Männer erinnern. »

Die «Republik-Jury», in ihrer Laudatio zum Republik-Preis an «Die Kanon»
Aus: Auch die Erinnerung hat ein Geschlecht, in: Republik, 31.1.2019

Kreationsförderung oder Preise sind zum einen klar Einkommensbestandteile für Autor*innen, zum anderen sind sie aber auch Sichtbarkeitsmacherinnen und Relevanzmassstab. Wer in den Genuss einer anerkannten Förderung kommt, erhält mehr Aufmerksamkeit, der Bücherverkauf nimmt zu, mehr Lesungen werden gebucht und das Werk hat Chancen zur Aufnahme in einen künftigen Kanon.

Eine Analyse des A*dS von 2018 zu Schweizer Literaturpreisen und -beiträgen richtete u.a. das Augenmerk auch auf die Genderfrage. Untersucht wurden 22 Institutionen und 31 Preise, Stipendien und Werkbeiträge aus der gesamten Schweiz und über alle Sprachregionen hinweg. Nicht untersucht wurden dabei kantonale und kommunale Förderinstrumente der öffentlichen Hand, die das Resultat nochmals verändern könnten.

Insgesamt kamen 44% Autorinnen und 56% Autoren in den Genuss einer Förderung. Bei den Jurymitgliedern ist das Verhältnis ähnlich: 43% Frauen und 58% Männer. Nimmt man die Gesamtsumme der Preisgelder als Referenz für die Bestimmungsmacht, dann sind die Männer auch hier in der Mehrheit mit 61% im Verhältnis zu 39% Frauen.

Wir erkennen also auch in der Literaturförderung das wiederkehrende Verhältnis 40 zu 60%, nur bei den Preisträgerinnen ist die Quote leicht besser.

Allerdings ist gemäss Zählungen einzelner Förderinstrumente zu vermuten, dass dieses Verhältnis zu Ungunsten der Frauen schwindet, berücksichtigt man Mehrfachförderung über die gesamte Lebenszeit. Dann sinkt der Anteil auf ca. 30 % Frauen.

Kontinuierliche quantitative wie qualitative Untersuchungen fehlen. So ist das Verhältnis der Bewerbungen zu den prämierten bzw. geförderten Autor*innen meist unbekannt. Auch fehlen Antworten auf die Frage einer Einbeziehung der Lebensumstände in die Förderstrukturen. Haben Frauen, die nach wie vor einen Grossteil der Erziehungsaufgaben übernehmen, einen Nachteil bei den Förderangeboten? Und stimmt die Vermutung, dass bei anonymen Wettbewerben Frauen besser berücksichtigt werden, als wenn man die Autor*innen kennt?

Förderinstitutionen bemühen sich seit einigen Jahren sichtbar, die Situation zu verbessern, um bei der Förderung diverser zu werden. So hat – um nur ein Beispiel zu nennen – Pro Helvetia 2021 auf eine anonymisierte Jurierung der Werkbeiträge umgestellt. In Zahlen ausgedrückt: 2020, noch ohne Anonymisierung, gingen 125 Eingaben ein. Davon waren 46% von Autorinnen. Einen Werkbeitrag erhielten 38%, also 8 Autorinnen, umgekehrt kamen 13 Männer in den Genuss eines Werkbeitrags. 2021, als zum ersten Mal anonym juriert wurde, waren von 193 Eingaben 49% von Autorinnen. Erhalten haben 54 % Frauen einen Werkbeitrag. Eine spürbare Zunahme, Zufall oder Trend?

7. Reflexion über Literatur, also Literaturkritik

«Der Zutritt der Frauen in die Medienwelt ist eine von Mannes Gnaden. Natürlich gibt es auch in der Medienwelt so etwas wie Frauenförderung. Doch ist sie hier, was sie in der Männerwelt meistens ist – eine Art erweitertes Balz- und Brutpflegeverhalten. Und das ist beinahe auch schon alles, was junge Frauen von der Medienwelt erwarten können.»

Iris Radisch, Literaturkritikerin
Aus: Nicole Seifert, Frauenliteratur. Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt, Köln: Verlag Hiepenheuer & Wietsch, 2021, S. 147.

Die deutsche Autorin und literarische Übersetzerin Nicole Seifert geht in ihrem Buch «Frauenliteratur. Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt», das letztes Jahr erschienen ist, so scharfsinnig wie scharfzüngig mit der Literaturkritik ins Gericht. Bei ihrer Analyse stellt sie fest, dass die Literaturkritik mit zweierlei Massstäben gemessen wird, wobei Literatur von Frauen in der Regel als «banal, kitschig, trivial» abgewertet werde. Gemäss ihrer Analyse herrscht dabei immer noch das jahrhundertealte Verständnis vor, Frau schreibt naiv und empfindsam, Mann geistvoll und genial, obwohl heute – auch gut 10 Jahre nach Iris Radischs Analyse – mehr Autorinnen selbstbewusster und erfolgreicher sind – und auch mehr für die Thematik sensibilisierte Autoren. Also eine neue Generation, die wir auch hierzulande sehen. Nicht nur diese binäre Kategorisierung spielt für die Bewertung der Literatur eine entscheidende Rolle. Noch mehr wird, so Seifert, «Person und Werk einer Autorin […] bei der Gelegenheit unter Missachtung grundlegendster literaturkritischer Kriterien vermengt». Soweit zu einer qualitativen Einschätzung der Literaturkritik, die von Seifert mit vielen Beispielen unterfüttert wird.

Wie steht es um die quantitative Seite, durch die wohl auch erst die Tragweite von Seiferts Einschätzung eingeordnet werden könnte?

In Österreich und Deutschland wurden 2016 bzw. 2018 erste Untersuchungen zur Sichtbarkeit von Frauen in den Medien gemacht, die als Basis für ein langfristiges Monitoring angelegt sind.

Beide Untersuchungen kommen zu den ähnlichen folgenden Resultaten:

Auf eine Autorin kommen zwei Autoren. Kritiker schreiben vor allem über Männer. Kritikerinnen meistens auch. Drei Viertel aller von Männern besprochenen Werke sind von Autoren verfasst. Kritikerinnen besprechen ausgewogener, doch auch überwiegend Männer.

Mehr Raum für Männer, die über Männer schreiben. Die von Kritikern verfassten Besprechungen sind deutlich ausführlicher als die von Kritikerinnen. Auch im TV erhalten Autoren deutlich mehr Sendezeit. Nur im Radio erhalten Autorinnen längere Sendezeiten als ihre männlichen Kollegen.

Unter den zwanzig meistrezensierten Titeln finden sich gemäss der österreichischen Studie nur vier Titel von Frauen. – Im Vergleich sind unter den 20 meistverkauften Titeln ganze 12 Titel von Frauen, sieben davon in den Top 10.

Literaturkritikerinnen braucht das Land. Sie sind gerade in der Schweiz, so mein persönlicher Eindruck, durchaus da. Doch ohne Zahlen bleibt im Unklaren, wie weit sich etwas tut – und ob sich in der weiterhin wichtigen Literaturkritik die Zahlen bessern.

8.     Literaturgeschichte und Kanon

«Die gute Nachricht lautet: Weil Bücher von Autorinnen aus der Literaturgeschichte ausgeschlossen wurden, gibt es in der Vergangenheit unglaublich viel zu entdecken.»

Nicole Seifert, Autorin und literarische Übersetzerin
Aus: Nicole Seifert, Frauenliteratur. Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt, Köln: Verlag Hiepenheuer & Wietsch, 2021, S. 170.

Düster wird es bei der Frage nach der Bildung eines literarischen Kanons, also im Grunde bei der historischen Bewertung. Obwohl fast die Hälfte der publizierten Werke von Frauen stammen, werden bei der literarischen Bildung von der Schule bis an die Universitäten nach wie vor mehrheitlich Literatur von Männern berücksichtigt. Literaturgeschichten, Bücher für den Unterricht, Anthologien, die in den letzten Jahren erschienen sind – Werke, die Literatur in historische, inhaltliche oder qualitative Zusammenhänge bringen, sind schlicht krass männerdominiert.

Als erstes Beispiel aus der Schweiz sei die 2013 herausgegebene Anthologie «Moderne Poesie in der Schweiz» von Roger Perret genannt. Von den 250 Schreibenden in diesem Werk, das die NZZ als «grossartiges viersprachiges Kompendium»[xiii] bezeichnete, sind nicht einmal 30 % Frauen.  Dies notabene in einem Kompendium über Lyrik.

Beispiel zwei: Im neuen «Kanon der Weltliteratur»[xiv] des Literaturkritikers Denis Scheck finden sich Werke von gerade einmal 26 Autorinnen. In diesem Kontext muss dazu auch der Werbetext zitiert werden: «Was soll man nur lesen? Die Zusammenstellung eines modernen Literatur-Kanons mit Buchtipps, die 100 Klassiker der Weltliteratur umfassen […]».

Beispiel drei: Katharina Herrmann hat die Autor*innen ab dem 17. Jh. im Standardwerk von Wulf Segebrecht «Was sollen Germanisten lesen. Ein Vorschlag» aus dem Jahr 2000 ausgezählt: 77 Autorinnen und 446 Autoren.

Die Liste der Beispiele wäre noch lang und wir sprechen keineswegs nur von Werken die vor 5, 10 Jahren oder noch länger erschienen sind. Das Resultat sieht in aktuelleren Werken nur wenig besser aus, wie wir an den nur drei genannten Beispielen gesehen haben.

Qualitätsdiskurse und Kanonbildung werden also nach wie vor mehrheitlich von Männern gemacht. Hier braucht es ein kritisches Umdenken von der Herausgeberschaft über den Verlag bis zur – ganz wichtig – Bildung auf jeder Stufe. Die Kanonbildung in der Literatur muss kritisch und von Grund auf überdenkt werden, damit künftig die Literatur auf einem ganz selbstverständlich inklusiven und diversen Fundament erfasst werden kann.

9.     Fazit

«So werden wir, wenn wir prophezeien dürfen, in künftigen Zeiten Frauen weniger Romane schreiben, aber bessere Romane; und nicht nur Romande, sondern Lyrik und Kritik und Geschichte. Doch hierhin schaut man gewiss in die Ferne zu jenem goldenen, vielleicht fabelhaften Zeitalter, in dem Frauen haben werden, was ihnen so lange versagt blieb – Musse und Geld und ein eigenes Zimmer.»

Virginia Woolf, Autorin – Übersetzung aus dem Englischen: Hannelore Faden
Aus: Frauen und erzählende Literatur. Zuerst erschienen in The Forum, März 1929. Hier in: Frauen und Literatur. Essays, Frankfurt a.M.: Fischer 1997, S. 18.

Mein Fazit? Es ist nicht alles schlecht, aber noch mehr nicht gut. Es wird besser, braucht aber noch viel Effort. Dafür müssen wir diverser Lesen, denn wir müssen aufholen, zu lange ist unser historisches Lesewissen zu sehr von Werken von Autoren geprägt gewesen.

Zahlenmässig stelle ich fest, dass sich in fast allen Bereichen die 40 % Frauen, 60% Männer als stabile Formel in den letzten Jahren eingeschlichen hat. Ich frage mich, wie weit sich dieses Verhältnis als Konstante festsetzt – oder: wie wir aus diesem fast die Hälfte, aber eben nicht ganz-Verhältnis rauskommen. Dafür brauchen wir mehr analytisches Material, nicht nur Zahlen, auch qualitative Untersuchungen.

Oder abschliessend: Wie kommen wir also aus der Kategorisierung nach Sonderinteressen in der Literatur hinaus? Wie können wir diverser, inklusiver werden, ohne exklusive Wertungen vorzunehmen? Wie können wir die Debatte um Relevanz, Sichtbarkeit und Bedeutung dahin bringen, dass Sonderkategorien keine diskriminierenden Rahmenbedingungen mehr unterstellt sind? Wie lösen wir das Dilemma des nach wie vor existierenden Gender Pay Gap in der Literatur?

Um all dies zu diskutieren, brauchen wir Veranstaltungen wie dieses Symposium.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


[i] Pascal Gygax, Sandrine Zufferey, Ute Gabriel: Le cerveau pense-t-il au masculin? Cerveau, langage et représentations sexistes. Le Robert, Mai 2021.

[ii] Aus: Benjamin Keller: Wie das Männliche das kindliche Denken prägt, in: Horizonte. Das Schweizer Forschungsmagazin, 130/Sept. 2021, S. 37 – oder unter: https://www.horizonte-magazin.ch/2021/09/02/wie-das-maennliche-das-kindliche-denken-praegt/ [heruntergeladen am 4.5.2022].

[iii] Aus: Doris Knecht: Sorry, ist nicht so meins, https://www.zeit.de/kultur/2022-04/frauen-literatur-buecher-themen-emanzipation [heruntergeladen am 2.5.2022].

[iv] Aus: Katharina Herrmann: Auch ein Land der Dichterinnen und Denkerinnen. Eine etwas längere Anmerkung, www.54books.de vom 24.9.2017, S. 38 [heruntergeladen am 1.4.2019].

[v] Aus: Stefania Franco: Le scrittrici donne in Italia: una panoramica, auf: https://www.donne.it/scrittrici-donne-in-italia/#gref [heruntergeladen am 15.6.2022].

[vi] Die Resultate der Studie stammen aus dem Artikel von Isabelle Falconnier: Le printemps des femmes de l’édition romande, in: LivreSuisse. Le magazine semestriel de l’actualité du livre en Suisse romande, printemps/été 2021, No 1, S. 7.

[vii] Aus: Chiara Beretta Mazzotta: Editoria, scrittura, cultura: quanto spazio hanno le donne?, auf: https://www.bookblister.com/2021/03/10/editoria-scrittura-cultura-quanto-spazio-hanno-le-donne/ [heruntergeladen am 16.6.2022].

[viii] Sondernummer: Geschlechterverhältnisse in der Literaturkritik von Mag. Dr. Veronika Schuchter, Universität Innsbruck, https://www.uibk.ac.at/iza/literaturkritik-in-zahlen/pdf/2018_sondernummer_geschlechter.pdf [heruntergeladen am 1.4.2019].

[ix] Aus: Ein eigenes Zimmer, dt. von Heidi Zerning, Frankfurt am Main, 2001, S. 7.

[x] Aus: Dana B. Weinberg, Adam Kapelner: Comparing gender discrimination and inequality in indie and traditional publishing, 9. April 2018, auf: https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0195298 [heruntergeladen am 15.6.2022].

[xi] Zählbasis: Neuerscheinungslisten bei www.literaturschweiz.ch.

[xii] Berit Glanz und Nicole Seifert: Wenn es unterhaltsam wird, sind die Frauen dran, aus: https://www.spiegel.de/kultur/literatur/vorschauenzaehlen-anteil-von-autorinnen-in-den-fruehjahrsprogrammen-a-1301975.html, 22.12.2019 [heruntergeladen am 16.6.22].

[xiii] Roman Bucheli: Eine viersprachige Anthologie der Schweizer Lyrik, auf: https://www.nzz.ch/feuilleton/buecher/eine-viersprachige-anthologie-der-schweizer-lyrik-seit-1900-ld.849819?reduced=true, 3.12.2013 [heruntergeladen am 15.6.2022].

[xiv] Ausgezählt auf: https://www.die-besten-aller-zeiten.de/buecher/kanon/schecks-kanon-der-weltliteratur.html [heruntergeladen am 10.6.2022].