Über Frauen und Eidechsen

Die Literatur und ihre männlichen Gatekeeper

Von Dana Grigorcea

Die Beschäftigung mit der Literatur ist ein grosses Privileg, denn sie setzt eine bestimmte Bildung oder Allgemeinbildung voraus, die ein Privileg ist, Musse, die ebenfalls ein Privileg ist, und Freiheit – die so ungeheure wie grundlegende Freiheit, über die Welt nachzudenken und darüber seine Meinung kundzutun.

Dessen müssen wir uns bewusst sein: dass wir hier alle Privilegierte sind, die zu Privilegierten reden. Ob diese Privilegien von uns selbst hart erkämpft sind oder nicht, sei dahingestellt – wir haben sie, hier und jetzt, und andere, die meisten Menschen, haben sie nicht. Wir haben das Privileg, über uns und die Welt nachzudenken, über Individualität und über Abhängigkeiten, über Gemeinschaft und Eloquenz, über die Liebe und die Ästhetik.

Und anders etwa als bei den rein materiell Hochprivilegierten leben wir nicht aus Prinzip im engen Kreis, im Gegenteil: uns gehört die ganze Welt – zumindest die geistig-künstlerische. Denn in der Literatur werden auch diejenigen mitgemeint, die keinen Zugang zur Literatur haben.  Das mag als Paradox erscheinen: dass viele Menschen mitgedacht sind, ohne selbst daran teilhaben zu können. Aber dieses Paradox vermag die Literatur ausser Kraft zu setzen, denn die Literatur erhebt den ihr innewohnenden Anspruch auf Ganzheit. Die Literatur ist ein Spiegel der Gesellschaft, ein Spiegel der Welt, und sie spiegelt auch die, die nicht in den Spiegel schauen. Es gibt Literatur über Geknechtete und Randständige, ohne dass diese davon Notiz nehmen könnten.

Nun, ist es denn erlaubt, über Erfahrungen jenseits des eigenen Erfahrungshorizonts zu schreiben? Ist das nicht vielmehr eine Anmassung?

Es ist erlaubt – das ist meine feste Überzeugung. In der Literatur ist alles erlaubt! Dem gedanklichen Spiel sind keine Grenzen gesetzt. Denn die Literatur transzendiert unsere Existenz – und wie sie die Existenz der Lesenden transzendiert, transzendiert sie auch die Existenz der Schreibenden. Ich darf also über Balletttänzer schreiben, ohne Ballett zu tanzen, ich darf über Vampire schreiben, ohne vorher von einem Vampir gebissen worden zu sein, ich darf aus der Perspektive eines Storches schreiben, ohne selbst ein Storch von einer Störchin zu sein. Und wenn der Text überzeugend ist, dann sind es die Lesenden, die beim Lesen eben Ballett tanzen, von Vampiren gebissen werden oder als Störche nach Afrika fliegen und wieder zurück.

Ob man nah an der eigenen sichtbaren, wie auch immer belegbaren Biografie schreibt oder nicht, ist nicht ausschlaggebend für die Qualität des dadurch erzeugten Textes. Wichtig ist nicht, wer der Schreibende ist – oder angibt zu sein –, und ob er das Berichtete wirklich erlebt hat oder nicht, sondern dass seine Sprache trägt, dass seine Figuren glaubwürdig sind, seine Welt von Bestand. «Les Miserables», «Die Elenden», wurde vom gebildeten, gut situierten Victor Hugo geschrieben, die berühmte Hochstaplerfigur Felix Krull erschuf der politisch integre Bürgersohn Thomas Mann. Und ikonische Frauenfiguren der Literatur wie etwa Madame Bovary, Anna Karenina und Effi Briest wurden nicht etwa von Frauen, sondern von Männern erschaffen, von Flaubert, Tolstoi und Fontane. Ob das allein deswegen so ist, weil Männer die Türen zum Literaturbetrieb bedienten und Frauen höchstens als Figuren in der Literatur vorkamen – also als Figurationen männlicher Vorstellung?

Ja, auffallend viele berühmte Protagonistinnen wurden von Männern erschaffen: von den Heldinnen unserer Kindheit, Aschenputtel, Dornröschen, Schneewittchen, der kleinen Meerjungfrau, der Schneekönigin, der Vielzahl böser Hexen und Stiefmütter, der Biene Maja, Alice im Wunderland und dem doppelte Lottchen über etherische Musen wie Dantes Beatrice, Petrarcas Laura, Max Frischs Lynn, fragil-heroische Figuren wie Penelope, Gretchen, die Kameliendame, Emilia Galotti, Johanna von Orleans bis zu überlebensgrossen Unheilbringerinnen wie Lady MacBeth, Medea, Milady de Winter, darunter die Femmes Fatales wie Shakespeares «Dark Lady», Nabokovs Lolita, Oscar Wildes Salome, Heinrich Manns Rosa Fröhlich, Wedekinds Lulu.

In der Tat verzeichnet die Literaturgeschichte mehr Protagonistinnen, die von Männern erschaffen wurden als solche von Frauen.

Wurde dadurch ein verzerrtes Frauenbild geprägt, weil das vornehmlich aus männlicher Perspektive geschah?

Die Literaturgeschichte, so viel steht fest, hat an einer verschwindend kleinen Anzahl Schriftstellerinnen festgehalten. Den Frauen wurde in der fernen und nahen Vergangenheit das Privileg des Schreibens, das ja einen bestimmten Grad persönlicher Freiheit, Bildung und Musse voraussetzt, vergleichsweise weniger zuteil. Dabei war und ist die Mehrheit der Lesenden weiblich. Die Mehrheit der Philologie-Studierenden ist weiblich, die Mehrheit der Literaturhausbesuchenden ist weiblich, die Mehrheit der Verlags- und auch der Buchhandels- und der Bibliotheksmitarbeitenden ist weiblich. In der Geschichte waren es vornehmlich Frauen, die literarische Salons führten und besuchten, Tagebuch und lange Briefe schrieben, oder, wie bei Tschechow so treffend festgehalten, sich «mit einem Buch langweilen gingen.»

Wieso sind Frauen im Literaturkanon also unterrepräsentiert?

Diese Frage stellte ich mir als Verlegerin des Telegramme Verlags. Wieso wurde Ricarda Huch oder Lou Andreas-Salomé vergessen, wieso ist Else Lasker-Schüler so selten Schulstoff? Die drei Frauen waren Zeit ihres Lebens beachtete Literatinnen, wurden besprochen, wahrgenommen, haben Autorenkollegen wie Rainer-Maria Rilke, Gottfried Benn und Heinrich Böll inspiriert. Ihre Sprache trägt, ihre Themen sind nach wie vor von grosser Aktualität.

Wir druckten also, in schöner Aufmachung, Lou Andreas-Salomés feministische Novelle «Fenitschka» und ihren dicken Roman «Das Haus», Ricarda Huchs Novelle «Lebenslauf des heiligen Wonnebald Pück», eine hochamüsante Kritik unserer Anfälligkeit für Populisten und Hochstapler, und «Arthur Aronymus» von Else Lasker-Schüler.

Die Wiederauflage dieser Bücher wurde von der Literaturkritik weitgehend ignoriert. Ich zitiere hier aus der kleinspaltigen Erwähnung von Lou Andreas-Salomés «Fenitschka» in einer bedeutenden Schweizer Zeitung: «Die russisch-deutsche Schriftstellerin und Psychoanalytikerin Lou-Andreas Salomé ist eher durch ihre schillernde intellektuelle Persönlichkeit und durch ihre Beziehung zu Nietzsche, Rilke und Freud in Erinnerung geblieben als durch ihre zahlreichen Schriften. (…) Aber ihre duftige Prosa fasziniert durch feine Risse und Brüche.» 

Ja, meine Damen, um es zu den Lesenden zu schaffen, muss ein Buch erst durch das Nadelöhr der Literaturvermittler kommen. Und die Kritiker – ist hier Gendern angebracht? – die Kritiker also bestimmen, was tragende, potente Literatur ist und was nur eine charmante, duftige Petitesse.

In Rumänien meiner Kindheit, in der kommunistischen Diktatur, walteten als abgründige Gatekeeper der Literatur die Zensoren. Der Zensor – hier ist das Gendern nun wirklich nicht angebracht, denn die Literaturgeschichte verzeichnet, soweit bisher verarbeitet, nur männliche Zensoren – der Zensor also bestimmte, was valable, den Staatsansprüchen konforme Literatur war und was nicht. Gütigere Zensoren halfen auch beim Lektorat der Manuskripte. Und so begannen Autorinnen und Autoren, die Zensur mit «sopârle», sogenannten «Eidechsen», also wendigen Sprachtricks zu umgehen, ja irgendwann konzentrierte sich die Literatur darauf, möglichst viele Eidechsen an der Zensur vorbeizuschmuggeln, mit dem ambitionierten Vorsatz, die Zensur damit ausser Kraft zu setzen!

Die Lesenden jener Zeit, die Generation meiner Eltern und Grosseltern, amüsierte die Lektüre solcher Bücher. Mich lassen die meisten Bücher von damals ratlos, denn sie sind zum einen datiert, zum anderen bar jeglicher Sinnlichkeit und existentiellen Tiefgangs.

Manifeste haben es schwer, Literatur zu werden, obschon die Literaturberichterstattung von heute einen anderen Eindruck vermitteln könnte. Die Literaturkritik, die einen immer geringeren Einfluss auf den Bücherkauf zu haben scheint, kämpft gegen ihren Bedeutungsverlust mit angeblich peppigeren Formaten wie Porträts, Home-Stories und der Anbindung der Buchthemen an aktuelle gesellschaftliche Diskurse an. Sie mag sich nun gerne «feministischen Themen» widmen, «Literatur von Frauen», am besten noch «Literatur von Frauen mit Migrationshintergrund» oder «Literatur von Frauen mit Fluchterfahrung». Die Literaturberichterstattung gibt sich immer mehr politisch – und gönnerhaft. Literatur soll soziale Ungerechtigkeiten irgendwie wettmachen.

Ist das nun die ersehnte Chance der Schriftstellerinnen, aus dem zugewiesenen Nischendasein zu treten und mit ihren Texten gesellschaftlich relevant zu werden? Nein, denn das nächste Nischendasein wartet schon.

Die Literatur erhebt den Anspruch auf das Ganze – und nach dem Ganzen sollten wir auch weiterhin greifen.